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125 Jahre Hannover 96

Als Hannover Trauer trug: Robert Enkes Suizid

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AN DER MITTELLINIE: Altin Lala (von rechts), Steven Cherundolo, Jiri Stajner, Hanno Balitsch, Arnold Bruggink und Teambetreuer Thomas Westphal tragen Robert Enkes Sarg. dpa (3)

Nie wieder klang es so traurig, nie wieder traf die Liedzeile mehr zu. Ja, sie schien für den schwärzesten Tag der Vereinsgeschichte geschrieben: 96, alte Liebe, „… nicht nur an guten Tagen, wenn die Sonne scheint“. Die damals 17-jährige Alina Schmidt sang die 96-Hymne bei der Trauerfeier für Robert Enke. Vor der Schülerin war am Mittelkreis der Sarg von Robert Enke aufgebahrt. Hinter ihr die Familie um die Witwe Teresa und die komplett versammelte deutsche Fußballnationalmannschaft und Vertreter der Vereine. Um sie herum Kameras und Fans, die im voll besetzten Stadion ihre Schals hochhielten und die Tränen laufen ließen in diesen herzzerreißenden 4:11 Minuten des Liedes.

Der größte Schock der Vereinsgeschichte: Im November 2009 begeht Torhüter Robert Enke Suizid. Er litt unter Depressionen. Die Trauerfeier in Hannovers Arena gerät zur Großveranstaltung. DFB-Präsident mahnt: „Fußball ist nicht alles, darf nicht alles sein.“

In seiner Trauerrede sagte DFB-Präsident Theo Zwanziger den Satz, der die Jahre überdauerte. „Fußball ist nicht alles, darf nicht alles sein.“

Fünf Tage zuvor war alles Sportliche nebensächlich geworden. Zwei Tage nach dem 2:2 im Heimspiel gegen den HSV verabschiedete sich Robert morgens von seiner Frau Teresa mit einer Lüge. Er habe zweimal Einzeltraining, sei gegen 18 Uhr wieder zurück. An diesem 10. November 2009 hatten die 96-Spieler jedoch frei. Enke fuhr mit seinem Mercedes-Geländewagen ziellos umher, kaufte mittags in einem Baumarkt ein Seil, spätnachmittags ließ er an einer Tankstelle einen Ölwechsel machen. Als der Abend anbrach, steuerte er den Wagen nach Eilvese. Das Dorf lag nur eine Autominute vom Wohnort der Enkes in Empede entfernt. Im Ortsteil halten nur S-Bahnen, andere Züge rauschen mit hohem Tempo durch. Enke lenkte den Wagen auf einen Feldweg. Er schloss den Mercedes nicht ab, ließ seine Geldbörse auf dem Beifahrersitz liegen. Auf dem Gleis nach Hannover versuchte der Regionalexpress RE 4427 um 18.17 Uhr noch eine Notbremsung. Die beiden Lokführer sagten aus, dass sie eine stehende Person auf den Gleisen bemerkt hatten.

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"Eine Depression ist behandelbar. Je früher sie erkannt wird, desto größer sind die Heilungschancen."

Teresa Enke

Um halb 7 rief Teresa besorgt bei 96-Torwarttrainer Jörg Sievers an und wollte wissen, seit wann das Training vorbei sei. Als ihr Sievers mitteilt, dass es keinTraining gab, ahnte Teresa – es muss etwas Schlimmes passiert sein. Schon am nächsten Tag gab sie auf einer bewegenden Pressekonferenz preis, was (zu) lange Familiengeheimnis gewesen war. Robert Enke, der Nationaltorwart und Fan-Liebling, litt an Depressionen.

„Wir haben so viel zusammen durchgestanden“, erklärte sie. „Die Zeit nach Istanbul und Barcelona war schwer.“ In der Saison 2002/03 konnte sich der Torhüter beim spanischen Topklub FC Barcelona nicht durchsetzen, er hatte Versagensängste und Selbstzweifel. Wie danach auch bei Fenerbahce Istanbul.

Der Psychologe Valentin Markser behandelte ihn, bestätigte auch auf der Pressekonferenz am Tag nach dem Suizid: „Er kam erstmals 2003 in meine Praxis, während seiner Zeit in Barcelona und Istanbul, weil er unter Depressionen litt.“

Im Sommer 2004 wechselte Enke zu 96. Hier blühte er auf, genoss die Anerkennung und Sympathie der Fans. Im Privaten musste er aber einen Schicksalsschlag verdauen. 2006 starb seine Tochter Lara, die mit einem schweren Herzfehler geboren und nur zwei Jahre alt wurde. „Der Tod von Lara hat uns zusammengeschweißt. Wir dachten, wir schaffen alles. Mit Liebe geht das. Aber wir haben es nicht geschafft“, sagte Teresa. Im Spätsommer 2009 brachen die Depressionen erneut auf, die Krankheit kommt in Schüben. Als er nicht spielen und trainieren konnte, wurde ein Virus vorgeschoben, um das wahre Problem zu verschleiern. Enke und sein Umfeld beschlossen dann aber doch, dass er sich in eine Therapieeinrichtung begeben soll. Aber diesen – entscheidenden – Schritt wagt Enke doch nicht. „Er wollte aus Angst nicht, dass es rauskommt“, erklärte Teresa. „Es hätte für alles eine Lösung
gegeben.“

Zurück blieben Teresa und die Adoptivtochter Leila – und auch die Mannschaft. Nach der Trauerfeier waren die 96-Spieler traumatisiert. Der Sarg am Mittelkreis, Spieler, die ihren toten Torwart hinaustrugen – „aufgrund der Erfahrung würde ich diese Entscheidung, die Trauerfeier im Stadion abzuhalten, nicht wieder treffen“, sagt 96-Chef Martin Kind. Mannschaft und Verein gerieten in eine Spirale aus Fragen, Ängsten, Schuldgefühlen und Niederlagen. „Die Zeit danach war oft sehr surreal. Wir waren in einer absoluten Schockstarre“, erinnerte sich Hanno Balitsch. „Viele Dinge werden plötzlich unwichtig: ob du spielst, ob du in der Startelf stehst, der Konkurrenzkampf, der eigentlich Kräfte freisetzen kann“, berichtet der ehemalige Mitspieler von Robert Enke. „Und alle, die das Recht oder die Pflicht gehabt hätten, zu sagen: ‚Was spielt ihr eigentlich für einen Rotz?‘, haben es nicht getan. Wir waren wie in Watte gepackt.“

Erst am letzten Spieltag rettete sich 96 durch den 3:0-Sieg in Bochum vor dem Abstieg. Weinende Spieler erinnern bei der Ehrenrunde auf einem Plakat an Robert Enke. Das Team fuhr von Bochum direkt zur Arena in Hannover. Auf einer Spontanparty mit mehr als 10 000 Fans wurden die Profis auf dem Rasen gefeiert.

Der besonnene Umgang mit dem Schicksalsschlag brachte 96 viel Respekt in ganz Deutschland ein. In Erinnerung haften bleiben auch die Schockstarre in der Stadt und die emotionale Wucht der Fans. „Die Reaktionen der Menschen“ beeindrucken 96-Geschäftsführer Kind noch heute. Teresa Enke rief die Robert-Enke-Stiftung ins Leben. Die drei Gründungsmitglieder sind 96, der DFB und die DFL. Teresa macht sich weiter und nachhaltig für eine Enttabuisierung des Themas Depression stark. Aufklärung sei das Wichtigste. Robert habe immer Angst davor gehabt, in eine Schublade gesteckt zu werden, falls seine Erkrankung öffentlich würde. „Eine Depression ist behandelbar. Je früher sie erkannt wird, desto größer sind die Heilungschancen.“ Andreas Willeke