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125 Jahre Hannover 96

Berlin, Berlin, wir jubeln in Berlin! Wie Zweitligist 96 Geschichte schreibt

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Im Steigenberger Hotel hatte die 96-Mannschaft später während des ZDF-„Sportstudios“ viel Spaß mit Günther Jauch imago, dpa

Da kann man schon mal durcheinanderkommen. Als Hannover 96 im Jahr 1992 als bis heute einziger Zweitligist den DFB-Pokal gewann – die Offenbacher Kickers waren bei ihrem gewonnenen Finale 1970 bereits aufgestiegen –, geriet Otto Andres ins Schlingern. „Deutscher Pokalsieger 1982 ist Hannover ... äh ... 92 ist Hannover 96“, verkündete er bei der Siegerehrung über die Lautsprecher des Berliner Olympiastadions. Der Fauxpas des DFB-Vizepräsidenten war nicht die einzige Kuriosität, die rund um die sieben Partien der Hannoveraner bis zum Sensationstriumph über die seinerzeit noch Röhrengeräte der TV-Zuschauer flimmerte. Sky, DAZN, Youtube? Damals noch Fremdwörter. Anhänger eines Zweitligisten, der 96 seit 1989 nun einmal war (und für weitere acht Spielzeiten, nur unterbrochen von zwei Regionalligajahren, auch bleiben sollte), mussten ein gutes Timing besitzen, um die raren Bewegtbilder ihrer Lieblingsmannschaft zu erhaschen. Doch mit jedem Sieg im Pokal steigerte sich 1991/1992 das Interesse, plötzlich wurden die Kicker von 96 auch überregional zu Fernsehstars.

Eine verrückte Pokalsaison endet am 23. Mai 1992 mit dem Elfmeter-Triumph gegen Mönchengladbach. Abends feiert sogar Günther Jauch live mit den Siegern.

Allen voran sicherlich Torhüter Jörg Sievers, der in der Vorschlussrunde gegen Werder Bremen (1:1 nach Verlängerung; 7:6 nach Elfmeterschießen – Kapitän Karsten Surmann hatte das Resultat zwei Tage zuvor in einem NDR-Interview exakt prognostiziert) und dem Endspiel gegen Borussia Mönchengladbach (4:3 vom Punkt nach torlosen 120 Minuten) zwar mehrfach zum Helden wurde, dessen Vorname sich offenbar dennoch nicht bis in die Bundesliga herumgesprochen hatte. „Das war ein Riesenzug vom Ralf“, ließ Gladbachs Schlussmann Uwe Kamps im „Aktuellen Sportstudio“ verlauten, angesprochen darauf, dass Sievers ihm für die bevorstehende Geburt seines Kindes Glück gewünscht hatte (Ralf war der ältere Sievers-Bruder und spielte beim FC St. Pauli). Überhaupt stand die Traditionssendung des ZDF am 23. Mai 1992 trotz der Studiogäste Anja Fichtel und Michael Stich im Zeichen des Showdowns in Berlin. Moderator Günther Jauch hatte sich im Steigenberger Hotel in die feiernde Meute gewagt und war von den angeschickerten Pokalsiegern vor laufender Kamera prompt mit „Tho-mas Gottschalk, schala-lalala-lala“-Sprechchören empfangen worden. Der Konter des eloquenten TV-Mannes ließ indes nicht lange auf sich warten, die braunen 96-Sakkos würden „einen etwas peinlichen Eindruck machen“, lästerte Jauch und lüftete die Jacke von Trainer Michael Lorkowski. „SAT1-Collection“ war dort auf einem Schild zu lesen, was Jauch mit einem selbst gebastelten Etikett „ZDF-Kollektion Kürten“ konterte. Dieter Kürten hatte kurz zuvor noch die Liveübertragung des Endspiels als TV-Kommentator begleitet.

In der Runde zuvor hatte noch der um keinen Spruch verlegene Lorkowski die Lacher auf seiner Seite gehabt. „Ich habe das gemacht, weil er da gerade stand und den kürzesten Anlauf hatte“, witzelte der Coach typisch grienend in der Pressekonferenz, angesprochen darauf, wie er auf die wahnwitzige Idee gekommen war, mitten in der „Elfmeter-Exekution“ (so nannte es NDR-Reporter Wolfgang Biereichel) zu Torhüter Sievers in den Strafraum zu laufen und ihn zum Ausführen eines Strafstoßes zu bewegen, was dieser anschließend auch erfolgreich tat.

"Plötzlich hatte Hannover etwas von Neapel."

Gerhard Delling, NDR-Reporter, nach dem Viertelfinale gegen den KSC

Das Heimspiel gegen Werder hatte den „Roten“ übrigens die damalige Nationalspielerin Doris Fitschen beschert, die als Glücksfee die Runde der letzten vier ausgelost hatte, von ZDF-Moderator Bernd Heller allerdings beharrlich als „Doris Fitschers“ tituliert wurde.

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Pures Glück: 96-Routinier Roman Wojcicki zeigt im Berliner Olympiastadion stolz den Pott. Der Pole hatte im finalen Elfmeterschießen gegen Mönchengladbach auch getroffen – Innenpfosten, drin. imago

Der einzige Zweitligist im Viertelfinale hatte mit dem Karlsruher SC (1:0 durch ein Tor von Mathias Kuhlmey nach einem Solo über den halben Platz) dort schon den dritten höherklassigen Gegner aus dem Wettbewerb geworfen. Was ZDF-Reporter Rolf Töpperwien in völlige Verzückung versetzte: „Das Niedersachsenstadion verwandelte sich ins Azteca-Stadion von Mexico City!“ Im NDR erinnerte sich Gerhard Delling angesichts der bengalischen Feuer ebenfalls ans Ausland: „Plötzlich hatte Hannover etwas von Neapel.“ Doch das letzte Wort gehörte Töpperwien: „Hannover 96 drehte fünf Ehrenrunden“, berichtete er. Die hatte er allerdings exklusiv gezählt.

96-Schatzmeister Dieter Braun hatte den nahenden Coup übrigens schon nach dem Achtelfinale (1:0) gegen Bayer Uerdingen vorausgesehen. „Haben Sie überhaupt keine Fragen? Wie wir nach Berlin fahren, ob mit dem Bus oder mit dem Flugzeug oder so?“, feixte er bei „Hallo Niedersachsen“ im dritten Programm. Noch fixer war Werner Hansch gewesen, der in der „Sportschau“ im Spielbericht des Drittrundenspiels bei Borussia Dortmund nach dem 1:2-Anschlusstor durch Patrick Grün angesichts des eingeblendeten Gästeblocks mitsamt der jubelnden 96-Fanschar huldvoll verkündete: „Und sie glauben jetzt an Berlin.“ Das Interview mit dem Ausgleichsschützen André Breitenreiter hatte der ARD-Mann übrigens im Dustern führen müssen, das Licht war unmittelbar nach Abpfiff ausgeschaltet worden. Und so fühlte sich der über beide Ohren strahlende 17-jährige Juniorennationalspieler dann auch an seine Bettruhe erinnert. „Ich habe davon geträumt, zwei Nächte lang. Es war schön“, erzählte er. 96 gewann durch ein spätes Hoppeltor von Jörg-Uwe Klütz aus der Distanz mit 3:2 – und war das einzige Team, das den Vizemeister BVB 1991/1992 im eigenen Stadion bezwang.

Von den beiden Siegen in den Runden eins (7:0 beim NSC Marathon Berlin) und zwei (3:2 beim Bundesligisten VfL Bochum) gab es keine TV-Bilder.

Übrigens griff erst seit Sommer 1991 die Regel, dass es bei einem Remis nach 120 Minuten zum Elfmeterschießen kommt. Eine Entscheidung am gleichen Tag hatte es vormals lediglich im Endspiel gegeben. Noch im Jahr zuvor waren in beiden Halbfinals jeweils Wiederholungsspiele notwendig geworden. Nur durch diese Neuerung konnte Jörg Sievers zum Helden gegen Werder werden – und das bereits im November von der Band Hardware produzierte Lied „Wir fahren nach Berlin“ in die Tat umsetzen. Als es wirklich so weit war, brachten Klütz, Sievers, Surmann und Lorkowski den Hit gemeinsam mit den langhaarigen Musikern im TV-Studio des NDR auf die Bühne. Moderator Jörg Wontorra hatte den Song zuvor mit „Wir kommen nach Berlin“ anmoderiert. Ehe Surmann ihn vorsichtig korrigierte. 96 und der DFB-Pokal – daran mussten sich sogar erfahrene TV-Leute erst einmal gewöhnen. Ole Rottmann